Ist ZeroCovid ein realistisches Ziel?

Der ZeroCovid-Aufruf hat für großes Aufsehen gesorgt. Medien, Politiker*innen, Aktivist*innen diskutieren das Ziel und die Forderungen. Wir meinen, dass ZeroCovid ein Bezugspunkt ist, an dem sich konkrete Praxis aufbauen läßt.

100 Millionen Infizierte und 2,3 Millionen Tote ist die aktuelle Bilanz der Pandemie. Jeden Tag kommen durchschnittlich 13.000 Tote hinzu. Die Impfstoffproduktion ist dermaßen langsam, dass sich neue Mutationen ausbreiten, die sich als noch gefährlicher herausstellen können. Portugal – aktuelles Negativland – in Europa, hat alleine im Jahr 2021 über 5.000 Tote zu verzeichnen; 70% der Pfleger*innen haben sich infiziert. Hintergrund ist die vermutlich ansteckendere SARS-CoV-2-Variante aus Großbritannien, die im Großraum Lissabon schon etwa 50 Prozent aller Neuinfektionen ausmacht. Österreich hatte im Winter kurzzeitig die höchste Todesrate weltweit zu verzeichnen. Die von der Pandemie verursachte Übersterblichkeit hat hier den stärksten Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung in 70 Jahren erzeugt. 2020 sind 10% mehr Menschen gestorben als in den Jahren zuvor.

Wenn wir über Realismus reden, sollten wir die Tragweite der Pandemie als Ausgangspunkt nehmen. Unrealistisch wäre dagegen, durch vermeintlich erreichbare Minimalforderungen dieser Tragweite nicht gerecht zu werden.

Warum die Eskalation?

Die aktuelle Politik der “Öffnungen” in Österreich fällt in die Zeit, in der sich die bekannten Virus-Mutationen beginnen, sich hierzulande zu verbreiten. Das heißt nichts anderes, als dass die Kurz, Anschobers, Ludwigs & co. sich von dem Ziel einer Reduktion der Infektionen verabschiedet haben. Und dass sie uns bewusst dem bevorstehenden Anstieg der Infektionen, einem möglichen Chaos in der Gesundheitsversorgung und weiteren Monaten des Notstands auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung ausliefern.

Dass die Pandemie nicht in den Griff zu bekommen ist, hat vor allem etwas mit den kapitalistischen Verhältnissen in Pandemiezeiten zu tun. Denn Gesundheitsschutz und Profitinteressen vertragen sich nicht. Christoph Badelt – Chef des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (wifo) – hat dies in der ZIB2 deutlich gemacht. Er lehnt ZeroCovid nicht deswegen ab, weil es wissenschaftlich falsch wäre, sondern weil es einen zu hohen wirtschaftlichen Schaden verursachen würde – vor allem für die Industrie. Wir stehen einer politischen Riege gegenüber, die abseits des parteipolitischen Geplänkels diesen Konsens geschlossen trägt und das täglich laufende Infektionsgeschehen in der Arbeitswelt aus dem Bewusstsein verbannt.

Die europäischen Staaten können im Unterschied zu vielen asiatischen Ländern kein entschlossenes Handeln zur Pandemiebekämpfung umsetzen. Die Folge sind chaotische und widersprüchliche Zustände, die den Wirtschaftseinbruch im Verhältnis zur globalen Konkurrenz deutlich schlechter ausfallen lassen. Die wichtigste Aufgabe bürgerlicher Staaten ist es, die chaotische Konkurrenz zwischen den verschiedenen Konzernen und Kapitalinteressen möglichst unter Kontrolle zu halten und auszugleichen. Dass in der EU gemeinsames Handeln schwierig ist, weil die Interessen zu unterschiedlich sind, zeigte sich schon in der Vergangenheit.

Unsere Ziele als Ausdruck der realen Verhältnisse

Unsere politischen Ziele müssen sich an realen Notwendigkeiten und materiellen Möglichkeiten orientieren, um politische Kräfteverhältnisse verändern zu können. ZeroCovid hat ein politisches Ziel formuliert, das sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, wie die Pandemie am effektivsten einzudämmen ist. Das Ziel von 0 Neuinfektionen ist realistisch, weil es kein Problem wäre, sowohl einen kurzen Shutdown zu organisieren, als auch lebensnotwendige Produktionen aufrechtzuerhalten, eine soziale Absicherung für alle zu garantieren und planmäßig Voraussetzungen zu schaffen, die die Infektionsraten dauerhaft auf niedrigstem Level zu halten.

Jenseits der “Shutdown-Debatte”

Ein kurzfristiger Shutdown ist insofern notwendig, weil die Infektionszahlen einfach zu hoch sind, um sie mit den klassischen Methoden der Kontaktnachverfolgung in den Griff zu bekommen. Darum geht es: Die Infektionszahlen drastisch Richtung Null zu reduzieren, um anschließend auftretende Neuinfektionen mit Nachverfolgungsmaßnahmen unter Kontrolle zu halten. Ebenso das Risiko neuer Virusmutationen zu minimieren, die sich sich vor der Immunisierung der Bevölkerung entwickeln und die entwickelten Impfstoffe und Antikörper unwirksam machen.

Das heißt, es geht nicht nur um den Shutdown. Entscheidend ist, wie danach gehandelt wird – das zeigte sich in negativer Form im letzten Sommer. Notwendig dafür wäre eine deutlicher Ausbau des Gesundheitssystems mit Anpassung an die Pandemie: fokussierte Ausweitung der Testkapazitäten, schnelle Nachverfolgung durch Kontaktnachverfolgung und Quarantäne-Maßnahmen, die eine Weiterverbreitung verhindern. Genügend Angebote und ausführliche Informationen zur Impfung müssen zu einer schnellen und systematische Impfung möglichst vieler Menschen führen. So wäre eine ausreichende Immunisierung zu schaffen.

Zerocovid in der Praxis

Die Initiative ZeroCovid darf nicht nur auf das Ziel der Null-Infektionen reduziert werden, sondern muss im Zusammenhang mit all den dafür notwendigen Maßnahmen gesehen werden, die auf die reale Situation im Alltag heruntergebrochen werden können.

Daraus ergibt sich eine konkrete Praxis, anhand der folgenden miteinander verschränkten Punkte:

1) ZeroCovid aufgreifen und verbreiten.

Politik und Arbeitgeber dürfen nicht länger mit ihrem Spiel auf Kosten unserer Gesundheit durchkommen. Wissenschaftliche Erkenntnisse dürfen nicht länger aufgrund wirtschaftlicher und politischer Interessen ignoriert werden. Hunderttausendfaches Leid und Sterbenlassen dürfen nicht achselzuckend als Naturereignis akzeptiert werden. Corona-Verharmlosung darf nicht die einzige Alternative sein. Die rasche Eindämmung des Virus ist möglich und eine politische Frage des Allgemeinwohls und besonders jener, die in einer Klassengesellschaft am meisten darunter leiden. ZeroCovid ist Anlaufpunkt für all jene geworden, die eine Bewältigung der Pandemie im Interesse der Mehrheit durchsetzen wollen. Die temporäre Stilllegung nicht notwendiger Betriebe mit einer sozialen Absicherung aller Beschäftigten steht im Mittelpunkt.

2)  In die Betriebe und Schulen

die Übertragung findet eben nicht nur im Privaten statt, auch wenn die Regierung dies wie eine Schallplatte rauf und runter spielt. Der Arbeitsplatz ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreiten kann. Das ist das zentrale Motiv bei ZeroCovid – als Linke die Beispiele verstärken, wo diese Auseinandersetzung geführt wird. Zuletzt war dies bei Kindergartenpädagog*innen in Wien der Fall; ei Veloce setzte der neue Betriebsrat mehr Tests für Velocearbeiter*innen durch. Es gilt überall jene zu unterstützen, die sich gegen die Gefährdung ihrer Gesundheit zur Wehr setzen. Es geht um Kündigungsschutz, ein effektives Recht auf Quarantäne und Lohnfortzahlung in der Krise. Die Frage nach der Öffnung der Schulen muss im Mittelpunkt stehen. Als LINKS heißt das, Veranstaltungen und Treffen für Schüler*innen, Eltern und Schulpädagog*innen zu organisieren. In Bayern kam es in den letzten Tagen zu Schulstreiks, als sich Schüler*innen gegen die unzureichenden Schutzmaßnahmen und chaotischen Lehrplan zu Wehr setzten.

3) Pharmakonzerne an den Kragen

“Es gibt weltweit vier Dutzend Unternehmen, die in der Lage sind, Impfstoffe zu produzieren. Wenn wir deren Kapazitäten alle nützen würden, gäbe es bald keine Engpässe mehr”, so Ärzte ohne Grenzen. Doch: “Die reichen Länder haben sich auf die Finanzierung mit Steuergeldern von sieben bis acht Pharmakonzerne konzentriert.” Ein Aussetzen von Patenten und Monopolrechten ist dringend notwendig, um schnelle, weltweite Impfkampagnen zu ermöglichen und damit den aktuellen Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen.

Zahlreiche Initiativen und Petitionen zur Freigabe der Patente sind schon im Umlauf. Konfrontieren wir die Pharmakonzerne!

4) Gesundheitssystem ausbauen und Held*innen ausbezahlen

Das Gesundheitspersonal und insbesondere die Pflege arbeitet seit Monaten an der Belastungsgrenze und darüber hinaus. Um die Belastung zu senken und die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten braucht es einen längst überfälligen Ausbau des Personals und bessere Bezahlung. Es braucht eine effektive Teststrategie für all jene, die sich täglichen Kontakten aussetzen und einen deutlichen Ausbau der Kontaktnachverfolgung.

5) Demokratie verteidigen

Mit ihrer Symbolpolitik der Ausgangssperren und Straferhöhungen versucht die Regierung, von ihrer Verantwortung abzulenken und ihre autoritäre Handlungsfähigkeit zu bewahren. Wohin das führen kann, hat kürzlich die Untersagung aller politischen Kundgebungen am Wochenende gezeigt. Wir wissen, dass die Bekämpfung des Virus eine Frage der Mobilisierung der Bevölkerung für ein gemeinsames Ziel ist und die Polizei ein Instrument jener Leute ist, die sich unseren Interessen entgegenstellen. Diesen Gegensatz dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren. Die Alternative zu Polizeiwillkür und autoritärem Staat ist eine soziale und demokratische Pandemiebekämpfung. Die LINKS-Initiative von vergangenem Frühjahr zur Unterstützung gegen die Sheriffs im öffentlichen Raum ist ein gutes Beispiel, wie man bei dem spezifischen Thema eingreifen kann.

6) Finanzierung durch Vermögen / soziale Krisenbewältigung

In dem von Wissenschaftler*innen ausgearbeiteten Aktionsplan “Contain Covid-19” heißt es richtig: “Wo neuartige Varianten noch strengere und länger andauernde Maßnahmen als die bestehenden erfordern, ist es von größter Wichtigkeit, sicherzustellen, dass Menschen mit besonders schweren Belastungen finanzielle und soziale Unterstützung erhalten, dass die sozialen Lasten gerecht verteilt werden und dass die Anbieter psychischer Gesundheitsleistungen den steigenden Bedarf zur Bewältigung von Trauer, Isolation, Einkommensverlust, Angst, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Schlaflosigkeit und Angstzuständen als Folge der Pandemie und der Lockdown-Strategien decken können.”

Wer dafür aufkommen soll, wird eine zentrale Auseinandersetzung sein. Forderungen nach Besteuerung von Vermögen sollten dafür wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Kampagne von Attac liefert dafür einen guten Ausgangspunkt.

Mit LINKS

Der ZeroCovid-Aufruf liefert genug Punkte, um in den nächsten Wochen/Monaten eine politische Praxis herauszuarbeiten, die eine Bewältigung der Krise im Interesse der Mehrheit in Angriff nimmt. LINKS kann hier einen Anlaufpunkt für all jene schaffen, die nicht mehr zuschauen, sondern handeln wollen.

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